Sich die Zeit nehmen

In den Jahren 2021 und 2022 habe ich keinen einzigen Blogbeitrag veröffentlicht. Rückblickend dachte ich erst, dass ich einfach zu wenig Zeit hatte. Doch ist dem wirklich so? Nein. Ich habe mir die Zeit dazu einfach nicht genommen, es scheint, als wären andere Dinge wichtiger gewesen. Und das ist auch in Ordnung. Doch nun habe ich mir vorgenommen, wieder regelmässiger zu schreiben und vor allem auch zu veröffentlichen. Man nimmt sich ja schliesslich Zeit, für die Dinge, die man eben gerne tun will.

Zeit hatte ich ja genug in den letzten Jahren. Doch wofür habe ich sie mir genommen? Eine spannende Frage. Ich habe viel gelernt, viel gelesen, viel Zeit mit Freunden verbracht, viel vor dem Computer, im Gym und draussen an der Sonne [und natürlich im Mardi Gras und etlichen anderen Cafés]. Ich schaue zurück und bereue nicht, dass ich nicht so viel Zeit mit Schreiben verbracht habe. Und das ist doch das Wichtigste, oder?

Ich sollte mir diese Frage öfters stellen. Für was nehme ich mir eigentlich Zeit?

Denn ich meine zu glauben, wir alle hätten genügend Zeit zur Verfügung – wenn wir sie nur richtig einteilen und für uns zielführend nutzen würden.

Wie sieht das bei dir aus? Bist du der Ansicht, zu wenig Zeit zu haben? Wie nutzt du deine dir vorhandene Zeit? Tust du das, was du wirklich tun willst? Hast du genügend Zeit um das zu tun, was du wirklich tun willst? Oder verbringst du zu viel Zeit mit Dingen, die du eigentlich gar nicht tun willst?

Ich beginne mich zu Hintersinnen, haben denn wirklich alle Menschen genügend Zeit, um sich die Zeit nehmen, die Dinge zu tun, die sie wirklich tun möchten? Wahrscheinlich ist dem nicht so. Doch wenn du dir die Zeit genommen hast, diesen Aufsatz bis hierhin zu lesen, dann gehörst du wohl zu den privilegierten Menschen, die diese Möglichkeit wahrscheinlich tatsächlich haben. Ein kurzer Exkurs ist nötig.

Es gibt viele Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringen, ihre lebensnotwendigen Grundbedürfnisse zu befriedigen – sie arbeiten um ihre Rechnungen bezahlen zu können oder ihre Familie zu ernähren. Viele können ihre Lebenskosten nicht weiter senken, können nicht auf einen Teil ihres Lohns verzichten, um so mehr Zeit für die Dinge zu haben, die sie vielleicht viel lieber tun würden. Dies trifft weltweit wohl auf die meisten Menschen zu – sie arbeiten um zu überleben. 

Gibt es etwas Wichtigeres, als sich um seine eigenen lebensnotwendigen Grundbedürfnisse zu kümmern? Man könnte argumentieren, dass sie ein glückliches und zufriedenes Dasein leben und den Gedanken [«ich habe zu wenig Zeit um die Dinge zu tun, die ich wirklich tun möchte»] gar nicht erst denken. Oder ist es genau umgekehrt und diese Menschen sind genau Diejenigen, die einzig wahrhaftig behaupten könnten, sie hätten zu wenig Zeit für die Dinge, die sie eigentlich gerne tun würden, weil sie die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringen ihre lebensnotwendigen Grundbedürfnisse zu befriedigen?

Ich beziehe mich für den abschliessenden Teil dieses Aufsatzes ausschliesslich auf Menschen, die sich nicht [rund um die Uhr] um ihre lebensnotwendigen Grundbedürfnisse sorgen müssen.

«Ich würde so gerne dieses und jenes tun, aber ich habe einfach zu wenig Zeit

Solchen Aussagen begegne ich mit einem Schmunzeln, Menschen streben nach Idealen, jeder und jede hat eine Vorstellung vom perfekten Leben. Man möchte reisen, viel Sport machen, lesen, Zeit in der Natur verbringen, lernen, man hat eine Familie und Freunde und noch so vieles mehr. Man muss sich im Klaren darüber sein, mit was man Zeit verbringen möchte, was einem wichtig ist und sich die vorhandene Zeit bewusst nehmen.

Keine Zeit zu haben ist eine Entscheidung. Eine provokante Aussage.

Die meisten Menschen in der Schweiz arbeiten Vollzeit, viele schreiben Überstunden und haben jährlich fünf Wochen Ferien. Eine Vollzeitarbeitskraft arbeitet in der Schweiz wohl rund 230 Tage im Jahr von früh bis spät. Da bleiben 135 Tage übrig, um all das zu tun, was man sonst noch so gerne tun möchte.

Dies tun die meisten mehr oder weniger freiwillig. Bewusst.

Dazu schlafen viele Menschen zehn, zwölf Stunden am Tag [nichts gegen Schlafen, doch acht Stunden reichen völlig aus], wir verbringen wohl alle viel zu viel Zeit am Smartphone, schauen Serien und TV oder spielen stundenlang auf irgendeiner Konsole irgendwelche Games. Wir sitzen gelangweilt auf dem Sofa und reden von all den Dingen, die wir doch so gerne tun würden. Oder noch schlimmer: wir sitzen im Kreis und trinken Bier oder rauchen Joints, ziehen Koks oder was auch immer – um die wenigen freien Stunden, die wir zur Verfügung haben, in irgendeinem Rausch, nicht einmal bewusst und bei klarem Geiste wahrnehmen zu müssen.

Und dann haben wir natürlich «zu wenig Zeit» für all die Dinge, die wir sonst noch so gerne tun würden.

Bullshit.

Luca Gnos