Der Mensch liegt im Sterben

Elon Musk und seine Firma Neuralink sollen gestern [vor einigen Wochen, als ich diesen Essay geschrieben habe] nach eigenen Angaben die Erlaubnis erhalten haben, erste Testversuche mit menschlichen Gehirnen durchführen zu können. Neuralink entwirft Hirnimplantate, die es uns Menschen ermöglichen sollen, durch Gedanken direkt mit Computern zu kommunizieren – Ziel soll sein, uns damit für Systeme mit künstlicher Intelligenz zu rüsten. Mithilfe der Schnittstelle sollen beispielsweise neurologische Erkrankungen geheilt werden können.

Neuralink und Musk sind nicht die Einzigen, die solche Produkte entwickeln – weltweit scheint ein Wettstreit um die Lösung des Bandbreitenproblems zwischen menschlichem Gehirn und der digitalen Welt zu bestehen.

Durch die Smartphones, Smartwatches und Laptops können wir Menschen heute bereits als eine Art von «Cyborgs» klassifiziert werden, doch besteht aktuell eben [noch] das Problem der Bandbreite. Wir sind mit unseren Organen nur begrenzt fähig, die unendlichen Informationen aus dem Internet aufzunehmen – unsere Augen und Ohren limitieren uns hinsichtlich der Informationsaufnahme stark.

Tagtäglich tragen wir ein schier unbegrenztes Wissen mit uns herum, wir beschaffen uns sämtliche Informationen mit Suchmaschinen innerhalb nur weniger Sekunden – dieses «Problem» soll nun gelöst werden. Das dafürsprechende Argument? Nun ja, weshalb sollten wir diese Arbeit noch auf uns nehmen, weshalb sollten wir wertvolle Sekunden verstreichen lassen, wenn es doch rein theoretisch – mit einem kleinen Hirnimplantat – auch viel effizienter gehen könnte.

Wie viel hat der Mensch im Jahr 2023 denn noch mit dem herkömmlichen Menschenbild zu tun, den wir bis heute – oder eben bis vor wenigen Jahren – kennen oder gekannt haben? Der von den Affen abstammende Mensch, der sich über Jahrtausende hin zu einem intelligenten – aber natürlichen – Lebewesen weiterentwickelt hat. Den Menschen, über den wir im Biologieunterricht gelesen haben. Den Menschen, auf den sich Rousseau und viele andere Philosophen in den letzten zweieinhalbtausend Jahren bezogen haben. Wie steht es um diesen Menschen?

Dieser Mensch ist vom Aussterben bedroht.

Noch gibt es wohl [ein paar wenige] Menschen, die von der Digitalisierung getrennt ihr herkömmliches Dasein leben. Doch im Laufe der nächsten Jahrzehnte wird diese Art des Menschen wohl vollständig vom Planeten Erde verschwunden sein. Ist das eine positive Entwicklung? Ich wage es zu bezweifeln.

Wir verlieren den Bezug zu unseren basalen Bedürfnissen, die wir uns in den letzten paartausend Jahren angeeignet und verinnerlicht haben. Der Grossteil von uns lebt in städtischen Regionen, verbringt kaum Zeit in der Natur, ernährt sich fast ausschliesslich von stark verarbeiteten Nahrungsmitteln, denkt kaum mehr selber, schläft zu wenig, betreibt kaum sportliche Aktivitäten, ist sozial minderaktiv und schaut täglich ein vielfaches mehr an Stunden in einen Bildschirm als in die uns umgebende Natur. Wir beschäftigen uns lieber mit belanglosen Fashiontrends und folgen dem Leben irrelevanter Prominenten, statt uns mit den grundlegenden Fragen unserer Existenz auseinanderzusetzen.

Wir versuchen [alibihaft] unsere vielen Probleme einzudämmen, statt uns mit den Ursachen zu beschäftigten. Wir sind abhängig von Pharmazeutika und lassen unseren Alltag durch die psychologischen Spielchen der Werbeindustrie als Instrument des Kapitalismus fast vollumfänglich bestimmen. Wir sind gefangen in einer Welt die uns unglücklich, unzufrieden und lustlos macht.

Der [natürliche, herkömmliche] Mensch ist am Aussterben und uns scheint es nicht zu kümmern. Vielleicht weil wir denken, es wäre bereits zu spät?

Ist es das? Ich denke, für ein Individuum ist noch Zeit, sich der Entwicklung bewusst zu werden und einen Schritt zurück zu machen und den Prozess zu entschleunigen oder gar vollumfänglich zu stoppen oder pausieren. Doch als Gesellschaft und Menschheit bin ich mir nicht sicher, ob dieser Prozess noch aufzuhalten ist, wir verbringen schon heute einen Grossteil unserer Zeit in der digitalen Welt und die heutigen technologischen Entwicklungen zeigen in eine andere Richtung. Von YouTube, über TikTok hin zu Metaverse, Virtual- und Augmented-Realities. Sich dieser rasanten Entwicklung entgegenzustellen und auf unserer Natürlichkeit zu beharren, wird in den kommenden Jahren nicht einfacher werden, doch sehe ich es als eine der [wichtigsten] Aufgaben der Menschheit, eben genau dies zu tun.

Elon Musk mag argumentieren, dass wir die Menschheit nur durch seine technologischen Entwicklungen, die ihn [nebenbei?] zum reichsten Menschen der Welt machen, retten können. Ich wage das Gegenteil zu behaupten und bin der Meinung, dass wir uns selbst vor der Digitalisierung schützen sollten, um den [natürlichen] Menschen vor dem Aussterben zu schützen.

Luca Gnos